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Mensch & Gesellschaft: Wegschmeißen
tut weh
Chusa Lanzuela-Garcia sammelt, was andere Leute achtlos in den
Mülleimer oder auf die Straßewegwerfen, um daraus neue schöne Dinge
zu machen
Von Regina Seifert
Das Haus im ehemaligen Berliner Szenebezirk
Schöneberg ist noch ein Überbleibsel aus der Hausbesetzerzeit. Aber
nur äußerlich. Es dauert eine Weile, bis sich nach dem Klingeln die
große Toreinfahrt, die gleichzeitig Haustür ist, öffnet. Chusa Lanzuela-Garcia
muss selbst herunter kommen. Einen automatischen Türöffner gibt es
nicht. Dafür aber eine radfahrbegeisterte Mieterschaft. Über zwanzig
Fahrräder stehen dicht gedrängt im Durchgang zum Hinterhof.
Keiner von ihnen ist mit einem schweren Schloss gesichert. Im Vorder-,
Hinterhaus und Seitenflügel, die den grünen Innenhof umrahmen, wohnen
Menschen, die einander kennen, vertrauen und noch ziemlich viel Sinn
für Gemeinsamkeit haben. »Am Sonntag mache ich Frühstück für alle«,
hat Susanne auf den Zettel geschrieben und an die Haustür gepinnt.
Schade, dass heute nicht Sonntag ist.
Im Vorderhaus befindet sich Chusa Lanzuela-Garcias Atelier, in der
ersten Etage, die sie sich mit anderen Künstlern teilt. Die Türen
stehen jederzeit offen. In der Diele haben sie eine Küche eingerichtet.
Der große Esstisch bietet Platz auch noch für Freunde und Bekannte.
Und die kommen zahlreich – man spricht Spanisch, Englisch, Deutsch.
Chusa ist Recycling-Künstlerin. Als Arbeitsmaterial verwendet sie
das, was andere Menschen wegwerfen. Die Reste unserer Konsumgesellschaft.
Vor zehn Jahren kam die Spanierin aus der Provinz Tervel via München
nach Berlin. Sie liebt diese Stadt, die für sie etwas Magnetisches
hat. Sie mag ihre Offenheit, ihre kulturelle und menschliche Vielfarbigkeit.
»Und mittendrin habe ich die Möglichkeit, meine Kunst zu machen.«
Die ist genauso bunt und vielfältig wie die Stadt. Eine leuchtend
rote Tomatendose hält Chusas halblanges rotbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz
zusammen, der lustig über ihrem Kopf hin und her wippt. Diese ungewöhnliche
Haarspange trägt sie schon seit Jahren. Sie hat auch etwas mit ihrem
Künstlernamen zu tun: Miss Lata. »Lata kommt aus dem Spanischen und
bedeutet Dose oder Blech«, erklärt sie dem Sprachunkundigen lachend.
Doch als der versucht, ihren Künstlernamen einzudeutschen, legt sich
ihre Stirn augenblicklich in gestrenge Falten. Sie hat Recht, das
Spanische klingt viel fantasievoller.
Ein leichter Duft von Oliven und Orangen liegt in der Luft ihres Ateliers.
Zwei Wände des etwa 30 Quadratmeter großen Raumes auf der Künstleretage
sind mit fast vier Meter hohen Regalen verdeckt. Darin stapelt sich
der Inhalt unserer gelben Tonne vor der Haustür: Dosen, Büchsen, Joghurtbecher,
Milch- und Safttüten, in Kartons Berge von Flaschenverschlüssen, Korken,
Telefonkarten... Alles sorgfältig gereinigt und sortiert. Chusa kann
nichts wegwerfen. Liebevoll nimmt sie eine Dose in die Hand, ganz
vorsichtig mit zwei Fingern, als könne sie jeden Augenblick wie Glas
zerbrechen. »Wegschmeißen tut weh«, sagt sie. »Bei uns zu Hause wanderte
selten etwas in den Müll. Ging was kaputt, wurde es repariert, egal
wie alt es war. Andere Dinge, wie Verpackungen, fanden im Haushalt
meiner Mutter eine neue Verwendung.« Sie zeigt auf eine besonders
schöne Keksdose aus Metall mit einem Frauenbild darauf, die oberhalb
ihrer Werkbank im Regal steht. Die stammt noch aus den 60er Jahren.
Ihre Mutter hat sie ihr kürzlich geschenkt. Die Büchse stand über
drei Jahrzehnte in der elterlichen Küche. Es gehe ihr ans Herz, meint
Chusa, wenn solche Sachen auf der Straße liegen oder auf dem Müll
landen. »In meinem Atelier kann ich etwas Neues, Schönes draus machen.«
Das Neue und Schöne, wie sie es schlicht nennt, sind Kleider, Kostüme
– phantasievolle Kreationen, faszinierend in ihren Farben, Formen
und Materialien. Sie hängen auf einem Garderobenständer. Ganz vorn
ein Kleid, das an die Zeit der Pharaonin Cleopatra erinnert. Ganz
und gar aus Flaschendeckeln, die mit hunderten winzig kleinen Metallringen
zusammengehalten werden. Einer Schneiderpuppe, die mitten im Atelier
steht, hat sie eine ihrer neuesten Schöpfungen übergestreift. Ein
Kleid aus Milchtüten – der Rock ist kurz, das Oberteil sommerlich
ausgeschnitten. Die Farben blau-weiß und silbern. Fast wirkt es so,
als hänge es zur Anprobe für eine Kundin bereit – wie in einer echten
Schneiderei.
Zu jedem Kostüm fertigt die Künstlerin die passenden Accessoires:
Ketten, Haarspangen, Ohrringe... In einer Ecke auf dem Fußboden liegt
das Rohmaterial dafür: auseinander geschnittene Fischbüchsen, Deckel
von Joghurtbechern und vieles anderes. Schnell klettert Chusa auf
eine Leiter und holt Handtaschen aus dem Regal herunter. Die sind
natürlich nicht aus feinem Leder, sondern aus alten Filmbüchsen oder
kleinen Bierfässern, wie man sie in jedem Supermarkt kaufen kann.
Mit einem Metallschneider hat sie vorsichtig die Öffnungen herausgeschnitten,
die messerscharfen Metallränder mit Lederstreifen verklebt. Beim Anbringen
der Scharniere, Verschlüsse und Umhängeriemen musste sie besonders
aufpassen, erklärt sie, das Metall ist weich und schnell hat man eine
Beule drin. Innen sind die Taschen mit rotem Samt ausgelegt. Die Künstlerin
errät ziemlich schnell die Gedanken des Betrachters, der sich vorstellt,
damit auf die Straße zu gehen. Die Leute würden ihn für verrückt halten.
Was sie ganz und gar nicht findet und dabei fast ein bisschen beleidigt
wirkt. Denn der Kundenkreis für ihre Accessoires, die man auf Ausstellungen
kaufen kann, »ist beträchtlich. Das sind Leute, die was Besonderes
haben wollen, was nicht jeder trägt.«
Chusa Lanzuela-Garcia will mit ihrer Kunst die Menschen zum Nachdenken
anregen. »Muss wirklich alles, was wir nicht mehr brauchen, weggeworfen
werden?«, fragt sie. »Vieles kann mit ein bisschen Fantasie eine andere
Verwendung finden.« Wie die leere Keksdose ihrer Mutter, die zum Aufbewahrungsort
für die vielen Kleinigkeiten im Haushalt wurde. Oder die getrockneten
Teebeutel, die Chusa in einer Dose sammelt. Die haben gar nichts Ekliges,
verbreiten im Gegenteil einen Wohlgeruch von Pfefferminze, Orange,
Malve, Kamille. Aus den Beuteln soll einmal ein Kleid entstehen. Aber
bis es so weit ist, müssen ihre Freunde und Bekannten noch jede Menge
Tee trinken.
Chusa erzählt die Geschichte von den Wäscheständern, die sie im vorigen
Jahr von der Straße geholt hat, um daraus Kostüme zu machen. Ihre
Freundin glaubte ihr nicht, dass sie welche finden würde. Aber innerhalb
von nur drei Wochen standen 15 Wäscheständer in ihrem Atelier. Auf
ihrem Weg zwischen ihrer Wohnung im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer
Berg und dem Atelier, den sie Tag für Tag mit dem Fahrrad zurücklegt,
hatte sie sie gefunden. »Die meisten waren noch wie neu. Oft fehlte
nur eine kleine Schraube, war eine Strebe verbogen oder ein bisschen
Farbe abgeplatzt. Die Leute aber schmeißen das dann sofort weg. Weil
die Reparatur oft teurer ist als der Neukauf. Was natürlich von den
Herstellern so gewollt ist, damit sie immer mehr Produkte verkaufen
können. Schließlich leben wir in einer Wegwerfgesellschaft.« Doch
Chusa mag sich damit nicht abfinden. Vielleicht hat sie auch darum
ihre kreativen, künstlerischen Fähigkeiten zum Beruf gemacht und sich
der Recyclingkunst verschrieben.
Die Fähigkeiten entdeckte die zierliche, kaum 1,60 Meter große Frau
schon sehr früh. Sie lebte noch bei ihren Eltern und ging einem gutbürgerlichen
Beruf nach. Sie arbeitete als medizinisch-technische Assistentin.
Die Arbeit »gefiel mir sehr gut«. Nebenbei fertigte sie aus Resten
Schmuck – für den Hausgebrauch sozusagen. Vielleicht würde sie es
auch heute noch tun, wenn sie nicht nach München gekommen wäre, damals
vor elf Jahren. Das seien »private Gründe« gewesen, die sie nach Deutschland
führten, erklärt sie. Mehr will sie dazu nicht sagen. Ein Kunststudium
kam für sie aber nicht in Frage, »das hätte mich zu sehr eingeengt.
Ich wollte mich nicht auf eine bestimmte Richtung festlegen«. Chusa
besuchte verschiedene Workshops und Kurse, unter anderem in Metallverarbeitung,
»um meine handwerklichen Fähigkeiten zu professionalisieren«. Den
Rest überließ und überlässt sie ihrer Fantasie. Und die scheint unerschöpflich.
Sie fing klein an: mit Schmuck und anderen Accessoires. Um ihren Lebensunterhalt
zu verdienen, arbeitete sie unter anderem als Kostümassistentin bei
verschiedenen Film- und Theaterproduktionen. Doch das braucht sie
heute nicht mehr zu tun. »Ich kann inzwischen von meiner Kunst ganz
gut leben.« Das klingt ziemlich stolz. Mit ihren eigenwilligen Kreationen
aus Metall, Plastik, Folie, Pappe oder Tetrapacks hat sich Chusa Lanzuela-Garcia
längst einen Namen gemacht. Sie zeigt sie auf Ausstellungen und Performances,
nicht nur in Deutschland, sondern auch in ihrem Heimatland und in
Frankreich. Sie veranstaltet Workshops für Kinder und Kunstlehrer
– meist am Rande ihrer Ausstellungen. Chusa Lanzuela-Garcia will zeigen,
dass Kunst durchaus auch zur Schärfung des Umweltbewusstseins beitragen
kann. Darum gehört sie auch zu den Hauptinitiatoren des 1. RestCycling
Art Festivals in Deutschland, das heute und morgen in Berlin stattfindet.
»Alles kann eine andere Funktion haben«, erklärt Chusa das Konzept,
das die Besucher für den Prozess des Wegwerfens und Weiterverarbeitens
von Konsum- und Abfallprodukten in unserer Gesellschaft sensibilisieren
soll. Achtzig internationale Künstlerinnen und Künstler aus den Bereichen
Malerei, Skulptur, Installation, Mode, Grafitti werden ihre Ideen
vorstellen. Vierzig von ihnen werden in Life-Ateliers aus Papier-
und Metallabfällen, altem Holz oder ausrangierten Kleinmöbeln Skulpturen,
Bilder, Lampen und anderes kreieren. Vorbild für das Festival ist
ein ähnliches, das seit elf Jahren mit großer Resonanz in Roubaix
in Frankreich stattfindet. Chusas größter Wunsch ist es, dass auch
die Hauptstadt damit einen neuen kulturellen Dauerbrenner bekommt.
Kunst und Umwelt unter einem Dach vereint.
http://www.misslata.com/
1. RestCycling Art Festival heute und morgen im RAW-Tempel (ehemaliges
Reichsbahnausbesserungswerk), Revaler Str. 99 (S- und U-Bahnhof Warschauer
Straße). Geöffnet ab 10 Uhr
(ND 08.06.02)
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